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Blumenwiese des Lebens

Writer: Enna RazalEnna Razal

Updated: Feb 22

Es ist schon erstaunlich, in einem organischen Körper zu leben, sich dessen aber für lange kaum bewusst gewesen zu sein. Dieser Artikel ist entstanden zum Abschluss meiner Zeit in der Heiligenfeldklinik. Es sind sehr persönliche Worte: alles fühlen, alles zulassen, alles wahrnehmen zu dürfen. Sich mit der Freude und zugleich allem Schmerz im Sein zu verankern. Die Blumenwiese der Lebendigkeit zu betreten und dort ganzheitlich-verkörpert endlich zu tanzen.


Blumen Nahaufnahme
Everyone wishes to dance on flowers but not many want to look at the soil without which no flowers can emerge.

(F. A. Fallou - one of the first modern-time pedologists admiring the vital energy of soil)


Audio cover
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Schneeweiß ist sie, die Decke meines Bettes. Farblos rein. Unschuldig schlicht. Ein Schneewittchen unter den Federbettbezügen. Gerade ruhe ich in ihrer Mitte, genau dort, wo die Matratze eine Kuhle schlägt, sich unter dem Gewicht meines Körpers konvex nach unten wölbt. In einer psychosomatischen Klinik irgendwo in Bayern – das Zimmer 1125 mitsamt seines Bettes, der Bezüge und auch der Matratze hat bereits so einige Bewohner kommen und gehen; gehen und kommen sehen. Draußen hinter der Fensterscheibe drehen sich die Windräder, mal langsamer, mal schneller, aber stets gegen den Uhrzeigersinn herum. Ihre Flügel schneiden durch einen grauen Winterhimmel, zerfurchen die Strömungen der Luft, und schauen mit ihrer Linksrotation dabei in die Vergangenheit, obwohl sie doch eigentlich Boten der Zukunft sein sollten. Indigene Weisheit trifft Technologiebestreben, oh well.


Die kreisenden Flügel zu beobachten, ist meditativ. Ich blicke die Windräder an, drei an der Zahl, und schaue ihrer Bewegung nach. Bis vor einigen Momenten schlug mein Geist Kapriolen, war maximal übermütig, und hätte gut daran getan, ein paar stetige Runden auf einem der Windradflügel zu drehen. Jetzt jedoch ist alles anders, ich versinke – für ein paar lange Atemzüge – dann schlägt der Blitz der Lebendigkeit ein. Nach siebeneinhalb Wochen Psychosomatik-Tieftauchen trifft er mich. Ist eine geballte Ladung Energie, geschaffen aus der Summe meiner Erfahrungen. Dieses Etwas möchte sich nun entfalten. Seine Schwingen ausrollen. Endlich Raum einnehmen. Hallo sagen. Meine Aufmerksamkeit erhalten. Ich sitze da, die Beine im Schneidersitz gekreuzt, und spüre wie diese Energie aufsteigt. Eine Woge rollt heran, kommt aus meinem innersten Inneren, und noch eine und noch eine. Ein ganzes Gewitter hat sich aufgebaut. Nun entlädt es sich. Durchströmt mich mit urtümlicher Kraft. Ich verspüre Freude diese Wogen, diese Schauer, diese Ströme in mir zu fühlen; trotz aller Entbehrungen – Schmerz, Schlaflosigkeit und Dysregulation der letzten Wochen.


Das Gefühl ist eine primal experience, eine Erfahrung, die an die Essenz geht. Etwas in mir glimmt auf. Ein Funke, ich kenne ihn gut. Ein Funkeln, das mein Leben begleitet. Immer schon hat es dies getan, jedoch verändert sich jetzt, gerade in diesem Moment, seine Glut. Sie wird stärker und ihre Farben verändern sich. Orange wandelt sich zu Gelb-blau. Wärme wird zu Hitze, wagt sich vor und strömt durch meinen Organismus. Breitet sich aus. Kleine Flammen bilden sich. Ein Lauffeuer ist entstanden. Ich atme ein, atme aus. Horche hinein und nehme wahr. Ja! Da ist Lebensenergie. Das ist Lebensenergie und zwar nicht zu knapp. So viel feurige Energie. Sie möchte züngeln, hoch hinaus und tief hinein. Meine Mundwinkel bewegen sich nach oben. Ein Lächeln formt sich. Beseeltheit – so mag sie sich anfühlen. Meine Aufmerksamkeit hängt im Moment. Die Grenzen zwischen Innen und Außen lösen sich auf, hätten sie denn jemals bestanden. Mein Sein ist momentan-allumfassend.


Ich bin überwältigt. Überwältigt von dieser Reise, die sich Leben nennt. Überschwemmt von Dankbarkeit für meine Erfahrungen. Überflutet von Akzeptanz, dass mein Leben tatsächlich immer so sein wird: ein Tanz entlang von Spektren. Eine Fahrt zwischen den Polen; nicht leicht oder schwer, gut oder schlecht, sondern gut und schlecht. Schlecht-gut und leicht-schwer und beides durchaus auch einmal zusammen, weiß-schwarz, schwarz-weiß oder nein: einfach bunt und sogar orange-lila mit eisblauen Tupfen. Es ist ein lebendiges Fließen mit und in allem. Hin und her. Her und hin.


Blumen im neuseeländischen Frühling in Richmond.


Was ich lange nicht gesehen habe ist, dass meine Lebendigkeit tatsächlich überall wohnt. In dem Schwarz und dem Weiß meines Lebens, genauso wie in seinem Kunterbunt. Meine Lebendigkeit wohnt im Schmerz sowohl als auch in der Schönheit des Seins. Ich bin lebendig, eben weil ich all diese Zustände fühlen und wahrnehmen kann – und neuerdings eben auch wahrnehmen möchte. Das ist der Unterschied, der Blitz des Aha-Momentes, der mich soeben getroffen hat. „Ja“ zum Leben habe ich immer schon gesagt; vom Embryo-Dasein bis zum heutigen Tag. Doch „ja“ zum Schwarz des Schmerzes, zum Grau des Leidens, zur Traurigkeit des Vergehens, zur Wut des Verlustes, zur Verlorenheit der Einsamkeit zu sagen... Das Leben also in seiner gesamten Bandbreite nicht nur anzunehmen, sondern zu integrieren und umarmen – das habe ich in der Vergangenheit nicht getan. Nicht so bedingungslos jedenfalls und nicht so allumfassend im organischen Zustand meines menschlichen Seins. Bislang hatte ich weder bewusst verkörpern, noch erfahren dürfen, was Mensch-Sein eigentlich bedeutet und vielmehr noch: wie es sich in seiner Gänze anfühlt, und auch anfühlen darf. Was seine Sprache ist und, dass es einer Blumenwiese voller Emotionen und Gefühle, voller Verstrickungen und Auflösungen, voller Musik und Stille, voller Leben und Tod sowie aller nur möglich-denkbaren Zwischentöne erwächst.


Ich sitze da, auf dem Bett. Die Windräder drehen sich weiter. Der Himmel ist grau. Und doch ist alles anders. Auf dem Weiß der Bettwäsche haben sich Blüten ins Licht gereckt. Blumen vieler unbekannter Arten wachsen empor. Farben sprießen ins Licht, leuchten in der Gewissheit, dass sich mein Leben von nun an und immer fort der Lebendigkeit widmen möchte. Der vollen und ganzen Lebendigkeit meines organisch-kreatürlichen Seins. Möge dieses Sein auf der Blumenwiese des Lebens nur so tanzen und jauchzen, genährt durch den inner soil, den inneren Boden. Wachsen auf dem Humus meiner Gefühle. Gedeihen durch das Loslassen. Sich vermehren durch die Früchte der Neugierde, der Dankbarkeit, der Selbstachtung und Annahme, des Mutes, der Präsenz und Verbundenheit des Interbeings. Meine Hand pflückt ein paar der vielen Blumen, die auf der imaginären Wiese meines Bettes ihre Blüten ins Licht recken; solange bis ich einen kleinen Strauß beisammen habe. Es ist ein Strauß meiner eigenen Lebendigkeit und dessen Samen möchte ich da draußen im Leben wieder und wieder aussähen. Auf dass sich Orte voller Blütenwiesen bilden und die Samen dieser Wiesen wiederum von anderen Menschen, dem Wind und dem Wasser, den Vögeln und den Insekten in die weite Welt hinausgetragen werden.

Nahaufnahme Frühlingsblumen
Auf der Blumenwiese des Lebens tanzen in vollem Bewusstsein für den Inneren Boden.
 
  • Die Heiligenfeld-Kliniken sind auf den Bereich der Psychosomatik inkl. Traumaarbeit spezialisiert. Dass ich in Heiligenfeld einem so umfassenden Konzept der ganzheitlichen Heilung begegnen würde, hat mich tief bewegt. Einem Ort also, an dem die Einheit von Mind-Body-Soul tatsächlich und wahrhaftig gelebt wird - ganz so, wie ich Gesundheit und Wellbeing drei Jahren praktiziere.

  • Die Erfahrungen in Heiligenfeld war so bewegend, dass ich übrigens in Zukunft selbst lernen möchte, anderen Menschen durch Tanztherapie zu helfen. Mehr zu Heiligenfeld hier: https://www.heiligenfeld.de/



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